Ein Alarmsignal für die arabischen Autokraten und die Imperialisten
Die Auswirkungen des ersten revolutionären Falls eines Diktators im 21. Jahrhundert in der arabischen Welt haben nicht nur den Maghreb und den Nahen Osten erreicht. Auch die europäischen Regierungen sind über die jüngste Entwicklung tief besorgt. Es handelt sich um einen langen Prozess, der zum Fall des Diktators führte, und die aufgestaute Wut der tunesischen Massen verstärkt durch die Effekte der Weltwirtschaftskrise in der halbkolonialen Peripherie gegen die aus den Unabhängigkeitsprozessen hervorgegangenen Regimes kanalisierte. Diese haben schon längst die schwammige nationalistische Rhetorik bzw. den Verweis auf den arabischen Sozialismus hinter sich gelassen. Dafür haben sie sich in den besten Diener des Imperialismus und seiner neoliberalen Privatisierungsoffensive der letzten Jahrzehnte erwiesen. Für die subalternen Klassen bedeutete dies Elend und noch mehr Unterdrückung.
Die Tunesier versetzen den Imperialisten und Autokraten einen harten Schlag (…) Bis zum Ende unterstützten die imperialistischen Länder eines der blutrünstigsten und diktatorischsten Regimes der Gegend, das sich jedoch einen demokratischen Anstrich gab.
Der Prozess in Tunesien hat allen Autokraten des Maghrebs und des Nahen Ostens, allesamt des Imperialismus Freund und mancher seit über zwei oder drei Jahrzehnten an der Regierung, einen harten Schlag versetzt. Es sind wenige, die sich wie Gaddafi getraut haben, so reaktionäre Erklärungen abzugeben wie Ben Ali sei „nach wie vor rechtmäßiger Präsident“ Tunesiens. Die Mehrheit der Regierungen versucht Solidaritätsdemonstrationen mit dem revolutionären Prozess in Tunesien zu verbieten, wie in Marokko von Mohamed VI, oder es wird versucht, diese auszugrenzen. Trotz des herrschenden reaktionären Klimas in Ägypten, das durch die Instrumentalisierung der interkonfessionellen Spannungen kennzeichnet ist, schafften es mehrere Dutzend Demonstranten sich vor der tunesischen Botschaft in Kairo zu versammeln. Dabei skandierten sie Parolen wie “Ben Ali, komm und hol Mubarak ab [Präsident Ägyptens] ins Exil!”. Im Jemen, auch leidend unter einem unterschwelligen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie und gleichzeitig Ziel von US-Luftoperationen im Namen des „Kriegs gegen den Terror“, gingen mehr als tausend Studierenden der Universität von der Hauptstadt Sanna auf die Straße. Dabei riefen sie die arabischen Völker auf, dem tunesischen Beispiel zu folgen. (…)
Im Hinblick auf die politische Weltlage ist das wichtigste wahrscheinlich die Tatsache, dass der Fall Ben Alis einen sehr harten Schlag für die Imperialisten, allen voran für die ex-Kolonialmacht Frankreich darstellt. (…) Mit Ben Ali ist einer der wichtigsten Verbündeten von Paris gefallen, der als Regionalpolizist avancierte und mehr als zwanzig Jahre lang hohe Gewinne und super Geschäfte ermöglichte. (…).
Die Gründe für den Fall von Ben Alis
Beim revolutionären Prozess von Tunesien handelt es sich nicht um einen isolierten Fall, wenn auch dem bisher fortgeschrittensten, in einer ganzen Region in Aufruhr. In den letzten Jahren fanden eine Reihe von Volksaufständen oder manchmal auch Streikbewegungen statt, die ein Scheidepunkt für die Lage der Region darstellen, wie in Ägypten und Algerien (…). Sowohl am Beispiel Algeriens als auch Ägyptens handelte es sich um den Ausdruck der aufgestauten Wut gegen die schlimmen und sich ständig verschlechterten Lebens- und Arbeitsbedingungen, gegen den Anstieg der Lebensmittelpreise, gegen mangelnde politische Freiheiten in Ländern, wo die Macht von einer Kaste und monolithischen Parteien ausgeübt wird. Dabei handelt es sich um dieselben Faktoren, die die tunesische Zündschnur zogen (…). Diese Elemente waren bereits im Jahr 2008 während des Kampfes im Bergbaugebiet der tunesischen Stadt Gafsa vorhanden gewesen. Damals probten zig Tausende arbeitslose Jugendliche, unterstützt von der Arbeiterschaft und den Oppositionssektoren der tunesischen Einheitsgewerkschaft UGTT, einen im Blut ertränkten Aufstand für Brot, Freiheit und Arbeit. Im Gegensatz zu den Entwicklungen in Algerien und Ägypten ist der Prozess im Dezember und Januar in Tunesien nicht auf eine Branche oder eine Region beschränkt geblieben, sondern dehnte sich auf das ganze Land aus. Dabei haben sich Schlüsselsektoren der Arbeiterschaft in Industrie und Dienstleistung (zum größten Teil in den Händen von multinationalen Unternehmen, die abgewandert waren und nun ihre Produktion und Dienstleistungen im Ausland zu tätigen). So wurde der bestehende Konsens der herrschenden Klasse Tunesiens aus den Angeln gehoben. Ein blutrünstiger Autokrat, der ein Präsident auf Lebenszeit zu sein schien, der sich auf die Unterstützung von Mafiosi und Polizisten stützte, um die planmäßige Plünderung des Landes seitens der Imperialisten zu gewährleisten (…)
Ben Alis Sturz hinterlässt ein Machtvakuum, das von den „Tauben“ der Einheitspartei RCD, von der Armee und von Sektoren der bürgerlichen Opposition mit der Unterstützung des Imperialismus versucht wird schnell zu füllen, damit die Situation nicht noch weiter abdriftet. Das Ziel ist mittelfristig eine dauerhafte Stabilisierung des Landes zu erreichen. Nach Ben Alis Flucht bleibt die Situation jedoch weiter offen.
Die Marionettenregierung von Ghannouchi: zwischen Kontinuität und kosmetischen Reformen
Obwohl die Anzahl der Demonstranten zurückgegangen ist, die Plünderungen aufgehört haben und die Medien weiterhin versuchen, eine allmähliche Rückkehr zur Normalität auf den Straßen von Tunesien zu vermitteln, ist die akute Krise, die das Land durchlebt, weit davon entfernt Vergangenheit zu sein (…) In politischer Hinsicht wurden die harten Sektoren des alten Regimes entfernt um den angeblichen „Tauben“ der RCD Platz zu räumen. Bei den Vertretern der RCD handelt es sich um Politiker, die weniger in der Repression, in den Verbrechen und den Mafiaähnlichenpraktiken des Clan um Ben Ali verwickelt sind. Zunächst übernahm Fouad Mebazaa, ehemaliger Parlamentspräsident, das Präsidentenamt und ernannte Mohamed Ghannouchi zum Premierminister. Er kündigte allgemeine Wahlen innerhalb von sechs Monaten an (und nicht zwei, wie es selbst die Verfassung vorsieht). Es handelt sich also um eine Kontinuitätsregierung, der mittels kosmetischer Eingriffe versucht eine institutionelle Struktur zu halten, um einen geordneten Übergang zu sichern, damit die Interessen der tunesischen Bourgeoisie und insbesondere die Geschäfte der Imperialisten gewährleistet werden können.
Um den Anschein des Wandels zu verstärken, hat der Premier die Regierung für jene Kräfte, die in „ex Opposition zu ihrer Majestät“ standen, sowie für angerkannte Persönlichkeiten geöffnet. Nach der Verkündung des neuen Kabinetts am 17. Januar sind die Vertrauten der RCD weiter im Amt, jedoch hat Ghannouchi einige Posten für die Opposition reserviert. Somit versuchte er der neuen Regierung einen Erneuerungsanstrich zu geben. Dies ist der Grund dafür, dass das ausgerufene Kabinett vom 17.01 von vier moderaten Oppositionsparteien besetzt wird: die Ettajdid (Nachfolgepartei der tunesischen KP), „Fortschrittlich-Demokratische Partei“ (PDP), Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit (FDTL) von Mustafa Ben Jaafar und vor allem drei Minister des Gewerkschaftsbundes UGTT.
Es vergingen nicht mal 24 Stunden bis die Vereinbarungen zur Bildung einer neuen Regierung durch den Druck auf den Straßen und der bisweilen illegalen Opposition (der gemäßigte Kongress für die Republik vom historischen Oppositionellenführer Moncef Marzouki, die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens von Hamma Hammami und die islamistische Ennahda) platzten. Marzouki, zusammen mit anderen Sektoren der bürgerlichen Opposition wie dem Rechtsanwaltgremium verlangt die Bildung einer Regierung zur Rettung des Landes ohne die RCD sowie die Auflösung der ehemaligen Partei von Ben Ali. Der Ausschluss von Ben Ali und vom Premier aus der Partei reichte aber nicht, um die Wogen zu glätten. Der Druck von der Basis des Gewerkschaftsbundes UGTT war so groß, dass seine drei Minister und Ben Jafaar schon nach einem Tag wieder aus dem Kabinett zurückgezogen wurden.
Trotz der Ankündigung 1800 politische Gefangene freizulassen, Ben Ali wegen Korruption vor Gericht zu bringen und das für die Zensur zuständige Informationsministeriums aufzulösen, fanden am 19.01 in der Hauptstadt, in Regueb, Kasserine und weiteren Städten erneut Demonstrationen statt. Dabei wurden die Sitze des RCD gestürmt. „Wir wollen ein neues Parlament, eine neue Verfassung, eine neue Republik“ skandierten die Demonstranten in der wichtigsten Avenue Habib Bourguiba, denn „wir haben den Diktator verjagt aber nicht die Diktatur“ (…)
Für eine revolutionäre Alternative für die Arbeiterklasse Tunesiens und des Maghrebs
Die wichtigste Karte auf die sowohl die Bourgeoisie Tunesiens (die neue Regierung, die Armee, die moderate Opposition) als auch der Imperialismus setzten, ist heute ein „politischer Übergang zur Demokratie“. In anderen Worten handelt es sich dabei um eine demokratische Konterrevolution, um einerseits die tunesische herrschende Klasse zu retten sowie die wichtigsten Elemente der „Plünderungsabkommen” mit dem Imperialismus unangetastet zu lassen (…) Aber die plumpen Versuche, eine „kosmetische Demokratisierung“ in die Wege zu leiten haben dazu geführt, dass die Massenbewegung eine komplett ablehnende Haltung gegenüber der Regierung von Ghannouchi zur Rettung des Landes sowie zur Aufrechthaltung der ex-Partei Ben Alis einnimmt. (…) Die ehemalige legale Opposition (Ettajdid, Bewegung der demokratischen Sozialisten etc.) setzen sich für einen Dialog und eine Regierung der nationalen Einheit ein, die die Versöhnung mit den Henkern der Diktatur suchen wird, die die Unterwerfungsvereinbarungen von Tunesien mit dem Imperialismus unangetastet lassen wird und kein einziges der Probleme lösen wird, die die Lohnabhängigen und verarmten Massen Tunesiens plagen: Arbeitslosigkeit, der Anstieg der Lebenshaltungskosten und Elend. Andere Parteien wie die von Marzouki oder der islamistischen Ennahda haben im wesentlichen die gleiche Strategie, wobei sie radikalere Losungen aufstellen wie die Forderung nach einer Einheitsregierung unter Ausschluss der RCD und die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung, wobei sie den Rest des Regimes Ben Alis vorerst unangetastet lassen.
Es ist notwendig festzustellen, dass der einzige wirklich und wahrhaft demokratische Weg für Tunesien, in dem Bruch mit den “Tauben“ der RCD sowie der bürgerlichen Opposition auf laizistischer oder muslimischer Seite liegt. Dieser Weg kann durch den Aufruf einer verfassungsgebende Versammlung eingeschlagen werden, die das Land von neu auf gründet, d.h. auf den Ruinen des Regimes von Ben Ali und den Unterwurfsvereinbarungen mit dem französischen Imperialismus und mit der EU. Eine solche verfassungsgebende Versammlung kann nur von einer Regierung der Arbeiter und verarmten Volksmassen ausgerufen werden, also von den Motoren des revolutionären Falls von Ben Ali, basierend auf Streikkomitees und der verarmten Bevölkerung, unabhängig von der Armee.
Nach dem die Führung der UGTT jahrzehnte lang einen verbrecherischen Dialog mit Ben Ali unterhielt, verteidigt sie heute die Perspektive von Abkommen mit einer bürgerlichen Regierung der nationalen Einheit, die bereit wäre eine etwas radikalere kosmetische Reform des Regimes zu implementieren. Dabei handelt es sich um die hellrote Variante dessen, was Ghannouchi bisher vorschlägt, und der sich dessen bewusst ist, dass die Säulen einer Interimsregierung die Armee und der Gewerkschaftsbund der UGTT wären. Angesichts diesen Kurses ist es notwendiger denn je mit jener Gewerkschaftsbürokratie zu brechen, die immer noch an der Spitze des Gewerkschaftsbundes steht, die über die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse und des Volkes mit dem Regime verhandelte und sie an die Polizei und Sicherheitsapparate auslieferte. Die kämpferische Opposition der UGTT hätte auf Grundlage der jüngsten Erfahrungen der tunesischen Arbeiterklasse das nötige Mobilisierungspotential, um einen Kongress mit der Gewerkschaftsbasis, der Jugend und den Studierenden der tunesischen Studentengewerkschaft (UGET) einzuberufen um den Gewerkschaftsbund der Bürokratie aus den Händen zu reißen und in den Dienst ihrer eigenen Interessen zu stellen.
Auf der anderen Seite müssen wir, gestützt auf die Kämpfe, die die wichtigsten Unternehmen des Landes lahmgelegt haben, für die unabhängige Selbstorganisation der Lohnabhängigen und verarmten Massen eintreten. Dies ist durch die Schaffung von Streik- und Nachbarschaftskomitees möglich, die unabhängig von jeglicher bürgerlichen Strömung und gleichzeitig autonom zur Armee sind. In die Armee können die Ausgebeuteten und Unterdrückten kein Vertrauen hegen um bis zum Schluss gegen die Reste des Regimes von Ben Ali und der Regierung der nationalen Einheit vorzugehen.
Gegen die Scheindemokratie, die der Imperialismus und die verschiedenen Fraktionen der tunesischen Bourgeoisie anstreben werden, müssen wir den Kampf für eine verfassungsgebende Versammlung aufstellen. So kann das Land von Grund auf neu aufgebaut werden. Dabei müssen wir unmissverständlich machen, dass eine solche souveräne verfassungsgebende Versammlung im Interesse der Lohnabhängigen und Unterdrückten organisiert werden kann, wenn die Arbeiter und verarmten Massen die Arbeiter- und Bauernregierung erzwingen. Nur die Arbeitermacht kann Elend und Arbeitslosigkeit mittels eines Sozialprogramms von öffentlichen Arbeiten unter Arbeiterkontrolle bekämpfen. Sie würde die erneute Nationalisierung und Enteignung aller imperialistischen Multinationalen Konzerne forcieren, um den Aufbau eines sozialistischen Tunesien zu erreichen. Dies wäre der erste Schritt auf dem Weg zur Föderation sozialistischer Republiken des Maghrebs und des Nahen Osten.
Ohne eine im Proletariat und der Jugend verankerte marxistische Parte, die den Massen eine echte unabhängige Alternative zu jeglicher Fraktion der Bourgeoisie bietet, ist es unmöglich dass der tunesischer Prozess bis zum Ende geht. Dies ist der Grund dafür, dass wir für den Wiederaufbau einer Weltpartei und ihrer jeweiligen nationalen Sektionen der sozialistischen Revolution eintreten, die Vierte Internationale. Der Sturz von Ben Ali ist der erste Schritt eines revolutionären Prozesses, der, falls er sich vertiefen sollte, einen Riss in der imperialistischen Herrschaft darstellen würde. Daher sollten sich die Arbeiteravantgarde und Revolutionäre in den zentralen Ländern dazu verpflichten, praktische und politische Solidarität mit unseren Klassenbrüdern und -schwestern auf der anderen Seite des Mittelsmeers zu üben. Denn jeder Schlag gegen die tunesische Bourgeoisie und ihrer Marionette Ghannouchi ist einen Schlag gegen den Imperialismus.
von Ciro Tappeste, FT-CI, Paris, 20. Januar 2011
Übersetzung: FT Deutschland