Thesen zu Aufbau, Krise und Untergang der Vierten Internationale
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Wir, die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), haben uns mit der Entwicklung der Vierten Internationale von ihrer Gründung im Jahr 1938 bis zur ersten Spaltung im Jahr 1953 auseinandergesetzt. Dabei ging es uns nicht um historische Fragen, sondern um politische Lehren für den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInneninternationale heute. In den letzten 60 Jahren hat sich der internationale Trotzkismus in Dutzende Strömungen zersplittert, und dieses Dokument bietet keine Analyse dieser Entwicklung an. Aber es liefert eine Grundlage für eine konkrete Untersuchung der verschiedenen Strömungen.
Einleitung
Für uns ist der Trotzkismus keineswegs veraltetet. Auch wenn Trotzki den Begriff bis zu seinem Tod als stalinistische Erfindung ablehnte, so steht er heute für die konsequente Verteidigung marxistischer Ideen gegen reformistische oder stalinistische Revisionen. Z.B. bestand Trotzki auf die Notwendigkeit einer internationalen Revolution, von der Marx bereits gesprochen hatte, als Stalin die Kommunistische Internationale auf die „Theorie des Sozialismus in einem Land“ einschwor.
Dabei konnte Trotzki in einer Reihe von Punkten die marxistische Theorie erweitern: so zeigte er, mit der Systematisierung der “Übergangsmethode”, den Weg, um die Tagesforderungen der ArbeiterInnenklasse mit dem Ziel der sozialistischen Weltrevolution zu verbinden; so erklärte er mit der Theorie der „permanenten Revolution“, wie in einem rückständigen Land nur eine proletarische Revolution grundlegende demokratische Aufgaben lösen könnte; so erklärte er mit der Theorie des „degenerierten ArbeiterInnenstaates“, wie die Sowjetunion und andere sogenannte „realsozialistische“ Ländern nicht kapitalistisch aber auch nicht sozialistisch waren. All diese Punkte halten wir für wichtige Elemente einer revolutionären Theorie in der heutigen Welt – deswegen beziehen wir uns auf den Trotzkismus, auch wenn wir keinen Personenkult betreiben und nicht jede Aussage Trotzkis unkritisch wiedergeben.
Heute gibt es weltweit Dutzende Strömungen, die sich auf Trotzki und die von ihm gegründete Vierte Internationale beziehen. Teilweise haben sie ähnliche Positionen, teilweise entgegengesetzte; teilweise arbeiten sie solidarisch zusammen und teilweise stehen sie sich feindlich gegenüber. RIO, die Revolutionäre Internationalistische Organisation, ist eine dieser Strömungen. In diesen Thesen wollen wir die Entwicklung der Vierten Internationale nach Trotzkis Tod nachvollziehen und eine Erklärung für die heutige Zersplitterung des Trotzkismus geben. Damit wollen wir nicht behaupten, dass unsere kleine Strömung die einzige revolutionäre Kraft auf der Welt sei. Nur sind wir der Meinung, dass gerade die großen trotzkistischen Strömungen weniger den revolutionären Marxismus der Vierten Internationale sondern eher den Zentrismus verkörpern.
Mit Zentrismus meinen MarxistInnen all jene Kräfte, die zwischen reformistischen und revolutionären Positionen schwanken. Zentristische Organisationen entstehen oftmals unter dem Druck von Massenradikalisierungen: so entstand in der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland die USPD, die zwischen der SPD und der KPD schwankte und schliesslich an ihrer eigenen Gegensätzlichkeit scheiterte. In den 30ern entstanden aus der Zweiten und der Dritten Internationale eine Reihe von zentristischen Organisationen, die mit dem Reformismus ihrer Mutterparteien gebrochen hatten aber keine konsequent revolutionäre Politik entwickelten. Die Vorgängerorganisation der Vierten Internationale versuchte, durch Zusammenarbeit aber auch scharfe Kritik, solche zentristische Kräfte für den Marxismus zu gewinnen. Das gelang aber nur bedingt.
Der „trotzkistische Zentrismus“ entstand unter besonderen Bedingungen: Die ausbleibende revolutionäre Welle, die Feindschaft der starken sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien und der dadurch dauerhaft fehlende Masseneinfluss der Vierten Internationale erzeugten einen hohen Anpassungsdruck. Mit dem Versuch, durch die Revision von großen Teilen des revolutionären Marxismus der schwierigen Lage beizukommen, schufen die TrotzkistInnen nicht eine der Situation angemessene revolutionäre Programmatik, sondern vollendeten nur ihre Impotenz. Dieser daraus hervorgegangene „trotzkistische Zentrismus“ widerspiegelt also nicht so sehr den Gegensatz zwischen revolutionären Massen und einer reformistischen Führung, sondern eher den Widerspruch zwischen einer formell marxistischen Programmatik und einer permanenten Anpassungspolitik.
These I
Gründung der Vierten Internationale
Die formale Gründung der Vierten Internationale im September 1938 beendete jenen Zyklus, der 1930 mit der Bildung der Internationalen Linksopposition (ILO) begonnen hatte: Den der Sammlung der revolutionären Oppositionellen gegen den Stalinismus, für die Bewahrung und Weiterentwicklung der theoretischen Errungenschaften des Marxismus im 20. Jahrhundert.
Die Vierte Internationale stand zum Zeitpunkt ihrer Gründung vor einer Reihe außergewöhnlicher Probleme:
- Die 30er Jahre waren durch eine Reihe historischer Niederlagen des Weltproletariats gekennzeichnet – die Errichtung faschistischer Diktaturen in Deutschland (1933) und Österreich (1934), imperialistische Überfälle auf halbkoloniale Länder wie Abessinien (1935-1936) und die Erdrosselung der spanischen Revolution (1936-1939);
- Die Sektionen der Vierten Internationale waren durch die Bank weg noch weit von einer echten Verankerung in den proletarischen Massen ihrer jeweiligen Länder entfernt;
- Sowohl die kleinsten Propagandagruppen wie die verhältnismäßig größten Organisationen (z. B. in den USA, Ceylon, Vietnam, Brasilien…) wurden wegen ihres klaren revolutionären Programms nicht nur von faschistischen sondern auch von demokratischen Regimes verfolgt; parallel dazu organisierten die stalinistischen Parteien, der Staatsapparat der UdSSR und insbesondere dessen Geheimdienste weltweit die Verfolgung, Entführung und Ermordung revolutionärer Kader;
- Schließlich wurde die Internationale in einem Moment gegründet, zu dem klar war, dass ein neuer imperialistischer Weltkrieg unmittelbar bevorstand.
These II
War die Gründung verfrüht?
Bereits 1933 entschied sich die ILO, dass die Gründung einer neuen Internationale notwendig war, nachdem die Kommunistische Internationale sich unfähig gezeigt hatte, den Kampf gegen den Faschismus in Deutschland zu führen bzw. die Lehren aus der eigenen Niederlage zu ziehen. Bei der Gründungskonferenz der Vierten Internationale in Perigny bei Paris (3. September 1938) sprachen sich unter anderem die polnischen Delegierten und die Vertreter der Revolutionäre Kommunisten Österreichs (RKÖ) gegen die Gründung einer neuen Internationale in einer Periode der Niederlagen für die ArbeiterInnenbewegung aus.
Wir teilen die Position Trotzkis und der Mehrheit der Konferenz, die in der Gründung der Internationale lediglich die logische Konsequenz des jahrelangen Kampfes der bolschewistisch-leninistischen Kader für eine Umgruppierung der revolutionären Kräfte sahen und auf die praktische politische Arbeit der angeschlossenen Sektionen verweisen konnten.
Die Gründung der Vierten Internationale war angesichts der drohenden Weltkriegsgefahr notwendig, um die Kontinuität der revolutionären ArbeiterInnenbewegung zu wahren, die durch den stalinistischen Verrat an den Grundprinzipien der Kommunistischen Internationale zu reißen drohte. Um dem imperialistischen Druck in allen kriegführenden Ländern zu widerstehen, war ein gut sichtbares Banner notwendig. Und tatsächlich wurden die zentristischen Kräfte, die die Gründung der Vierten Internationale als „verfrüht“ ablehnten (POUM, SAP, ILP), alle in den Wirbeln des Weltkrieges weggefegt.
Mit der Gründung der Vierten sollte für die ArbeiterInnenklasse in den schwierigen Zeiten des Weltkriegs, vor allem aber in der erwarteten revolutionären Nachkriegssituation, eine revolutionäre Führung aufgebaut werden. Im Krieg zeigte sich, dass fast ausschliesslich nur die Kräfte, die in der Vierten zusammengefasst waren, revolutionäre, internationalistische Positionen vertraten. So waren es nur die TrotzkistInnen, die nicht dem antideutschen Chauvinismus verfielen und z.B. revolutionäre internationalistische Arbeit unter deutschen Wehrmachtssoldaten leisteten.
These III
Das Übergangsprogramm
Neben einer Reihe organisatorischer Dokumente und Resolutionen zur Klassenkampfsituation in einzelnen Ländern bzw. Kontinenten beschloss die Gründungskonferenz das bereits seit Monaten intern diskutierte „Übergangsprogramm“: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“.
Trotzki, die wichtigste Führungsfigur der jungen Vierten Internationale, hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass dieses Dokument kein vollständiges Programm war. Das Übergangsprogramm wurde in Erwartung eines beispiellosen Gemetzels und einer darauf folgenden revolutionären Offensive des Proletariats geschrieben. In wenigen Jahren hatte das Gemetzel tatsächlich die schlimmsten Befürchtungen übertroffen, doch die revolutionäre Offensive der Nachkriegszeit konnte von SozialdemokratInnen und StalinistInnen in Schach gehalten werden. Eine revolutionäre Führung hätte in dieser Situation den imperialistischen Krieg in einen revolutionären Krieg verwandeln können – genau diese Aufgabe stellte sich die Vierte Internationale.
Das Übergangsprogramm kann nur als ein Teil des Programms der Internationalen Linksopposition bzw. der Vierten Internationale gesehen werden, das in mehr als zehn Jahren in zahlreichen Dokumenten und verschiedenen Interventionen im internationalen Klassenkampf ausgearbeitet wurde.
Die Bedeutung des „Übergangsprogramms“ liegt darin, dass die TrotzkistInnen durch ihr Anknüpfen an die theoretischen Errungenschaften der ersten vier Kongresse der Komintern der reformistischen Trennung des Programms in Minimalund Maximalforderungen (solche, die nur dem Tageskampf dienten und der abstrakten Propaganda für den Sozialismus) bzw. der Ersetzung des kommunistischen durch ein bürgerliches Programm (die Volksfrontorientierung der Komintern ab 1934) entgegentraten.
Wir sehen die Methode des „Übergangsprogramms“ als wesentlichen Teil unseres Erbes an. In diesem Sinne hat es für uns seine Aktualität behalten. Wir betrachten es nicht als sakrosankten Text, der unabhängig von Raum und Zeit seine Aktualität behalten hat.
Das Übergangsprogramm geht von der objektiven Situation der Jahres 1938 aus. Der Charakter der imperialistischen Epoche ist trotz der Niederlagen des Proletariats weiter gültig. Das „höchste Stadium des Kapitalismus“ hat im Weltmaßstab die Voraussetzungen für sozialistische Revolutionen geschaffen, und zwar nicht nur in den entwickelten kapitalistischen Staaten, sondern auch in der kolonialen und halbkolonialen Welt.
Allerdings haben sich seither die konkreten Rahmenbedingungen wesentlich geändert. Musste die Kommunistische Internationale in ihrer Frühzeit versuchen, die Massen vom sozialdemokratischen Reformismus wegzureißen, sah sich die Vierte Internationale mit dem Stalinismus als zweitem konterrevolutionärem Hindernis konfrontiert. Die Lösung der Führungskrise des Proletariats war daher der entscheidende Eckpunkt für die sozialistische Revolution, welche die Vierte Internationale als mögliches Resultat eines neuen imperialistischen Weltkrieges heranreifen sah.
(Doch die Aussage im Übergangsprogramm, dass die Krise der menschlichen Zivilisation sich auf die Krise der proletarischen Führung reduziert, halten wir heute nur bedingt für richtig. Denn die seit Jahrzehnten anhaltende Führungskrise hat zu einer ungeheuerlich verstärkten Krise der proletarischen Subjektivität geführt: die internationale ArbeiterInnenklasse, zahlenmäßig stärker als jemals in der Geschichte, ist aber gleichzeitig politisch schwächer als zu irgendeiner Zeit seit den frühen Tagen der ArbeiterInnenbewegung.)
These IV
Die Vierte Internationale im Krieg
Zu Beginn des 2. Weltkriegs sah sich die junge Internationale vor eine Reihe von Problemen gestellt: Ein Drittel der Mitglieder der US-amerikanischen Sektion, der Socialist Workers Party (SWP), brach rund um die Positionen von Shachtman und Burnham, welche die Einschätzung der UdSSR als degenerierter ArbeiterInnenstaat und daher die Verteidigung der Sowjetunion im Falle eines imperialistischen Angriffs ablehnten, mit der Partei; die französische Sektion durchlebte eine Reihe von Krisen und Spaltungen.
Die SWP war damals sowohl politisch als auch organisatorisch die stärkste Sektion. Trotz ihrer Probleme mit der eingeschränkten Demokratie in den USA wäre sie wohl die Kraft gewesen, die unter den schwierigen Bedingungen des Weltkrieges den Zusammenhalt die Vierte Internationale hätte sichern können. Ihrer internationalistischen Verantwortung für besondere Anstrengungen, um die Internationale zu führen, wurde die SWP aber nicht gerecht: ihre nationalbornierte Haltung hinderte sie daran, für die Internationale und vor allem ihre europäischen Sektionen eine klare Perspektive zu erarbeiten. Andererseits kommt der SWP das Verdienst zu, durch Kader, die in der amerikanischen Marine und in den Streitkräften dienten, trotzkistisches Propagandamaterial in alle Welt, inklusive die Sowjetunion, transportiert und in Europa das Netz der Sektionen neu geknüpft zu haben.
Die Notkonferenz vom Mai 1940 bekräftigte die Perspektive der Orientierung der Sektionen auf eine revolutionäre Krise im Gefolge des Weltkrieges.
In Europa führten die Erfahrungen mit dem Naziregime zu einer Reihe von Fehlern und Abweichungen: Teile der französischen trotzkistischen Bewegung gaben dem nationalistischen Druck der französischen Kleinund Großbourgeosie nach und passten sich an einen angeblichen „naturwüchsigen Nationalismus“ der proletarischen Massen an. Die deutsche IKD übersteigerte diesen Fehler noch, indem sie für das von den Nazis besetzte Europa jede sozialistische Perspektive aufgab und von der Notwendigkeit einer neuen Ära der bürgerlich-demokratischen Revolutionen sprach.
In den USA zeigten sich in der SWP Tendenzen, die klassische Position des revolutionären Defätismus aufzuweichen. Im Namen der „Revolutionären Militärpolitik“ wurde der Anschein erweckt, dass die Unterstellung der bürgerlichen Armee unter die Kontrolle der Gewerkschaften ausreiche, um ihren Charakter in eine Art ArbeiterInnenmiliz umzuwandeln. Diese Position steht im krassen Widerspruch zur marxistischen Position, dass die ArbeiterInnen die bestehende Staatsmaschinerie nicht übernehmen und für ihre Zwecke ausnutzen können, sondern sie zerschlagen und ihre eigenen Machtorgane errichten müssen.
Gleichzeitig argumentierte die SWP-Führung in dem Sinne, dass der deutsche Faschismus die größte Bedrohung für das amerikanische Proletariat wäre. Damit rückte der eigentlich zentrale Kampf gegen die eigene Bourgeoisie in den Hintergrund.
Der nazistische Terror und der Kriegsverlauf behinderten naturgemäß die Verbindung zwischen den Sektionen. Das 1942 gegründete Europäische Sekretariat konnte seinen Aufgaben nur mangelhaft nachkommen, die notwendige Konspiration führte zur Stärkung der Position des Sekretärs des Europäischen Sekretariats, Marcel Hic, der ein Vertreter der oben skizzierten nationalistischen Linie war. Die Schaffung des Provisorischen Europäischen Sekretariats im Sommer 1943 verbreiterte die internationale Führung und behob die organisatorischen und politischen Mängel teilweise, die Verhaftung und Ermordung wichtiger Kader in Frankreich im Oktober 1943 bedeutete jedoch einen wesentlichen Rückschlag für die Reorganisierung der Internationale in Europa.
Erst auf der Europäischen Konferenz (Februar 1944) wurden die nationalistischen Fehler umfassender kritisiert und zumindest an der Oberfläche überwunden. Als Konsequenz aus dem Sturz des italienischen Faschismus wurde ein Katalog von Übergangsforderungen für Länder erarbeitet, in denen sich die Möglichkeit eines Sturzes der faschistischen Herrschaft abzeichnete.
These V
Die revolutionäre Nachkriegskrise
Die revolutionäre Welle nach Ende des 2. Weltkrieges erreichte nicht die Intensität, die von der Vierten Internationale bei ihrer Gründung und auf ihrer Notkonferenz prognostiziert worden war. Der Stalinismus ging nicht – wie von Trotzki einst erwartet – geschwächt, sondern gestärkt aus dem Krieg hervor. Die Annahme, dass die US-amerikanische Bourgeoisie die demokratische Maske fallen lassen und in Richtung Faschismus gehen würde, hatte sich nicht bewahrheitet.
Die junge Führung der Vierten Internationale konnte jedoch die widersprüchliche Nachkriegssituation nicht korrekt einschätzen und stützte sich in erster Linie auf die Prognosen, die im Übergangsprogramm von 1938 aufgestellt wurden. Die wirtschaftliche Erholung des Kapitalismus in der Nachkriegsperiode – insbesondere jene des US-Imperialismus – wurde ignoriert oder heruntergespielt.
Zu diesem Zeitpunkt band der lange Boom wichtige Teile der ArbeiterInnenklasse im Westen an die kapitalistische Ordnung, was die revolutionären Kräfte stark isolierte.
Trotzdem erklärte die Führung der Vierten Internationale unreflektiert die von Trotzki 1938 als Möglichkeit prognostizierten Zusammenbruchstendenzen von Sozialdemokratie und Stalinismus zur aktuellen Realität. Der Vierten gelang es daher nicht, die Sektionen auf der Basis einer korrekten Einschätzung der Weltlage für ihren politischen Tageskampf zu bewaffnen.
Die Sektionen der Internationale gingen – entsprechend den Erwartungen der Vorkriegszeit – mit dem Bewusstsein eines unmittelbar bevorstehenden revolutionären Durchbruchs in die Nachkriegssituation. Die internationale Konferenz der Vierten Internationale (1946) ging in ihren Dokumenten von einer „langen revolutionären Periode aus“. Trotz aller Vorsicht in den Formulierungen des Hauptdokuments des Parteitags der US-amerikanischen SWP im November 1946 – den „Thesen zur amerikanischen Revolution“ – ist die Perspektive einer proletarischen Revolution in den USA in nächster Zukunft deutlich herauszulesen.
These VI
Zentristische Abweichungen
Ab 1948 wurde eine Revision der trotzkistischen Position gegenüber dem Stalinismus sichtbar: Während für die Sowjetbürokratie die Charakterisierung der UdSSR vorerst die „orthodoxe“ Position aufrechterhalten wurde, warf das Internationale Sekretariat der Vierten Internationalen diese Grundsätze im „Sonderfall“ Jugoslawien über Bord.
Die Konflikte zwischen der Sowjetbürokratie und der jugoslawischen Bürokratie unter dem Stalinisten Josip Broz Tito, die 1948 zu einem offenen Bruch führten, waren für das Internationale Sekretariat Beweis genug, dass die KP Jugoslawiens mit dem Stalinismus gebrochen und sich zu einer zentristischen Partei gewandelt hatte. Zur Untermauerung dieser Position wurde der Begriff Stalinismus neu definiert. Als wesentliches Kriterium des Stalinismus wurde die „Unterordnung der Interessen der ArbeiterInnen eines jeden Landes unter die Interessen der Sowjetbürokratie“ definiert – ein gewaltiger Unterschied zu jenen Punkten, die für TrotzkistInnen historisch den Stalinismus charakterisieren:
- ein ArbeiterInnenstaat, der von einer verselbstständigten und privilegierten Bürokratie kontrolliert wird;
- die Theorie von der Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Land;
- die Unterordnung des Ziels der Weltrevolution unter die friedliche Koexistenz des ArbeiterInnenstaates mit dem Kapitalismus;
- die politische Entmachtung des Proletariats und die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über das Proletariat;
- der Verrat an den historischen Interessen des Proletariats im Namen von Volksfronten, anderen Formen der Klassenkollaboration oder ultralinken Abenteuern.
In Jugoslawien führte diese geänderte Position zu einem Verzicht auf das Ziel einer politischen Revolution gegen die Bürokratie und die Rolle der revolutionäre Partei wurde auf eine Beratungsfunktion für die Titobürokratie beschränkt. Die Massen sollten nicht die Bürokratie stürzen, sondern sie durch genügend Druck auf revolutionären Kurs bringen. Der Aufbau einer eigenen, unabhängigen Partei war unter diesen Bedingungen nicht notwendig. Durch brüderliche Kritik sollten die zentristischen Abgleitflächen der KP Jugoslawiens ausgemerzt werden. Selbst eine gemeinsame Internationale wurde der stalinistischen Titobürokratie angeboten, diese lehnte aber ab. In Deutschland gab es sogar kurzfristig eine titoistische Partei (UAPD), in der die TrotzkistInnen mitarbeiteten.
Das jugoslawische Beispiel war der erste Schritt auf einem langen Weg der Vierten Internationale auf der Suche nach „Abkürzern“ im Parteiaufbau, bei denen gemeinsam mit nichtrevolutionären Kräften die Führungskrise des Proletariats gelöst werden sollte.
These VII
Revisionistische Theorien
Impressionistisch musste die Führung der Vierten Internationale auf die Änderungen in der Weltlage – Umwälzung der sozialen Strukturen in Osteuropa, Revolution in China – reagieren, wollte sie ihren Anspruch aufrechterhalten, als internationales revolutionäres Zentrum auf Schlüsselfragen des internationalen Klassenkampfes Antworten formulieren zu können. An verschiedenen Fronten wurden dabei wesentliche Grundlagen der marxistischen Methode über Bord geworfen.
Nicht mehr der Klassenantagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie, sondern der Widerspruch zwischen zwei „Lagern“ – „Imperialismus und Stalinismus“ – präge nun die internationale Situation. Haupttheoretiker dieser Einschätzung wurde der Generalsekretär der Vierten Internationale, Michel Pablo.
Die nun nicht mehr abstreitbare Erholung der kapitalistischen Weltwirtschaft wurde als Argument dafür angesehen, dass sich die Kriegstendenzen zwischen dem „imperialistischen“ und dem „stalinistischen“ Lager verschärften. Die Notwendigkeit der Expansion des imperialistischen Weltmarktes mache einen neuen Weltkrieg so gut wie unausweichlich. Für die „Natur“ dieses Krieges prägte Pablo ein neues Begriffspaar: die „Kriegs-Revolution“ oder der „Revolutions-Krieg“.
Dadurch bekomme aber der Stalinismus plötzlich wieder einen progressiven Charakter: Durch die vorhergesagte Expansion der degenerierten ArbeiterInnenstaaten wurde die stalinistische BürokratInnenendiktatur für Pablo eine notwendige Zwischenetappe auf dem unausweichlichen Weg zum Sozialismus, der Stalinismus werde dementsprechend aus „objektiver Notwendigkeit“ verschwinden. Die Notwendigkeit der politischen Revolution zum Sturz der Bürokratie wurde damit über Bord geworfen. Nach dieser Theorie war die Notwendigkeit einer trotzkistischen Internationale letztendlich auch nicht gegeben.
Darüber hinaus wurde eine folgenschwere programmatische Weiche gestellt: Jene Sektionen, denen entgegen der Beschlüsse der Nachkriegskonferenzen der Internationale der „Aufbau von revolutionären Massenparteien“ nicht gelungen war, sollten sich nun auf die Gewinnung von „Einfluss“ auf die ArbeiterInnenbasis der sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien konzentrieren.
These VIII
Kritik an der Führung
Trotz aller angeführten Mängel war die Vierte Internationale bis Ende der 40er Jahre eine lebendige revolutionäre Kraft und ein Anziehungspunkt für die fortgeschrittensten und bewusstesten Elemente der ArbeiterInnenklasse in der ganzen Welt. Die skizzierten revisionistischen Abgleitflächen oder offen revisionistischen Positionen blieben daher auch in den Sektionen nicht unwidersprochen.
Felix Morrow (SWP) widersprach der Mehrheitslinie der amerikanischen Sektion und des Europäischen Sekretariats, die die Errichtung stabiler bürgerlich-demokratischer Regimes in Europa ausschloss; zugleich betonte er die Rolle demokratischer Forderungen als Teil eines Übergangsprogramms. Weiters warnte er vor der Meinung, der US-Imperialismus hätte kein Interesse daran, die europäischen Imperialismen durch Kapitalexporte und Investitionen zu stabilisieren.
Die britische Revolutionary Communist Party (RCP) setzte der katastrophistischen Einschätzung der internationalen Führung bezüglich einer sich unabwendbar verschärfenden wirtschaftlichen Krise des Imperialismus im Weltmaßstab eine differenzierte Einschätzung entgegen, die vom Wirtschaftsaufschwung in den USA ausging und ein langsames, aber dennoch spürbares Wachstum der kapitalistischen Volkswirtschaften in Europa prognostizierte. Gleichzeitig versuchte die RCP die Position der Internationale bezüglich der „sich verschärfenden Krise des Stalinismus“ zu korrigieren und verwies dabei auf die Stärkung der Kremlbürokratie durch ihren militärischen Sieg über den deutschen Faschismus und die Ausdehnung ihrer Einflusssphäre in Osteuropa. Als einzige Sektion übte die RCP auch Kritik am „Offenen Brief“ des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale an die jugoslawische KP, der die Differenzen zwischen Trotzkismus und Stalinismus herunterspielte.
In der französischen Sektion kritisierte ein Führer der PCI, Favre-Bleibtreu, die Blocktheorie Pablos und unterstrich die Bedeutung des Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat als wesentlichem Bestimmungspunkt jeder Analyse der politischen und wirtschaftlichen Lage.
Auch wenn wir rückblickend feststellen können, dass es keiner Minderheitsposition in der Internationale gelang, eine komplette Plattform zur Korrektur dieser Fehler zu entwickeln; auch wenn wir heute wissen, dass viele der KritikerInnen über kurz oder lang mit der Vierten Internationale brachen oder sich ins Privatleben zurückzogen – die Bedeutung ihrer Kritik liegt bis heute darin, dass sie ansatzweise eine revolutionäre Alternative zu den zentristischen Positionen der internationalen Führung entwarfen.
These IX
Der 3. Weltkongress der Vierten Internationale…
Trotz etlicher Änderungen folgte der 3. Weltkongress der Vierten Internationale 1951 der Linie, die Pablo Anfang des gleichen Jahres in einem berühmt gewordenen Text entwickelt hatte – „Wohin gehen wir?“. Als Lehre aus der jugoslawischen und chinesischen Entwicklung – dort war unter Mao ein von allem Anfang an degenerierte ArbeiterInnenstaat errichtet worden – wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass die KPen nicht mehr konterrevolutionäre Kräfte seien, sondern „unter bestimmten ungewöhnlichen Umständen die Möglichkeit für eine revolutionäre Orientierung“ besäßen.
Die organisatorische Konsequenz dieser Orientierung war der entrismus sui generis – ein Entrismus „neuer Art“. Trotzki verstand unter “Entrismus” oder “Eintrittstaktik”, dass eine der Sektionen der Vierten Internationale unter Beibehaltung ihrer Organisationsstrukturen und ihrer Presseorgane in eine bestehende reformistische Partei mit Massenanhang, deren Basis sich radikalisiert hatte, eintritt und dafür kämpft, dass sich diese auf eine revolutionäre Grundlage stelle. Im Gegensatz zu diesem Entrismus, den Trotzki unter anderem in den 30er Jahren der französischen Sektion und der SWP vorgeschlagen hatte und dessen Ziel ein zeitlich begrenzter Fraktionskampf war, sollten sich nun die Sektionen der Vierten Internationale in stalinistische und (in geringerem Maße) sozialdemokratische Parteien langfristig integrieren, um „Druck“ auf die angeblich lernfähigen Führungen dieser Parteien auszuüben. Um diesen tiefen und lang anhaltenden Entrismus angesichts der antikommunistischen Hexenjagd der Marshallplanperiode durchzustehen, wurde den Sektionen empfohlen, ihre revolutionäre Politik – zumindest in den ersten Jahren – zu verstecken.
Diese Suche nach „Abkürzern“ wurde über die Klassengrenzen hinaus ausgeweitet – der argentinische bonapartistische Machthaber Juan Peron wurde zum „antikapitalistischen“ Führer erklärt, womit der Weg für die Anpassung der argentinischen Sektion unter der Führung von Nahuel Moreno an den Peronismus geebnet wurde.
These X
…und der Absturz in den Zentrismus.
Die Vorbereitung und die Beschlüsse des 3. Weltkongresses markieren für uns jene Wende, mit der wir das Ende der Vierten Internationale als revolutionärer Internationale feststellen. Grundsätzliche Positionen der revolutionären Theorie und Praxis wurden über Bord geworfen. Wenn man von einigen Detailkritiken absieht, die aber keinen prinzipiellen Charakter annahmen, machten die Sektionen und nationalen Führungen den revisionistischen Schwenk der internationalen Führung mit. Gleichzeitig hatte es in der Vorkongressperiode einen weiteren Bruch mit den bisherigen Prinzipien der Vierten Internationale gegeben, die auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus beruhten: Oppositionelle Positionen wurden unterdrückt oder gegenüber der Mitgliedschaft verschwiegen, offene Debatten wurden durch fraktionelle Absprachen hinter den Kulissen ersetzt.
Der 2. Weltkongress 1948 hatte zwar die falsche Weltlageeinschätzung der vorhergegangenen Periode noch weiter verfestigt und ging von einem unmittelbar bevorstehenden Weltkrieg aus, der sich in einen internationalen BürgerInnenkrieg verwandeln werde. Er hielt aber noch die revolutionären programmatischen Positionen aufrecht. Der 3. Weltkongress ging einen wesentlichen Schritt weiter und revidierte auch die programmatischen Grundlagen und markiert damit den endgültigen Übergang der Vierten Internationale in den Zentrismus.
Während der bolivianischen Revolution von 1952 konnte die bolivianische Partido Obrero Revolucionario (POR) diese falsche Perspektive umsetzen, da sie eine der wenigen Sektionen der Vierten Internationale war, die über einen Masseneinfluss verfügte. Dieser wurde allerdings dazu eingesetzt, um in die aus der Revolution hervorgegangene Regierung der bürgerlich-nationalistischen MNR einzutreten, mit dem Ziel diese nach links zu drängen, statt konsequent für eine permanente Revolution zu kämpfen. Aus den Reihen der Vierten Internationale erhoben sich nur einzelne Stimmen an der Basis (Vern-Ryan-Tendenz aus Kalifornien) gegen diese zentristische Politik.
Die SWP gab Pablo und seinen AnhängerInnen volle Rückendeckung – auch wenn sie sich in den folgenden Jahren als militante „AntipablistInnen“ zu inszenieren versuchten. Der Widerstand der Mehrheit der französischen Sektion entzündete sich nicht an der falschen Weltlageeinschätzung oder der Revision der Charakterisierung des Stalinismus – er machte sich an den verhängnisvollen Auswirkungen der entrismus-sui-generis-Taktik vor Ort in Frankreich fest. Damit blieben oppositionelle Strömungen innerhalb der Vierten auf taktische Fragen beschränkt und entwickelten keine grundlegende Kritik an der programmatischen Anpassung der gesamten Internationale in der Nachkriegszeit.
These XI
Die Spaltung der Vierten Internationale von 1953
Dem Übergang in den Zentrismus von 1951 folgte 1953 die organisatorische Zersetzung. Angeführt von der US-amerikanischen Sektion SWP spalteten sich eine Reihe von Sektion von der Vierten Internationale ab und bildeten das „Internationale Komitee der Vierten Internationale“ (IK). Der Rest der Vierten Internationale wurde in der Folge als „Internationales Sekretariat der Vierten Internationale“ (IS) bezeichnet.
Das maßgebliche Gründungsdokument des „Internationalen Komitees“ war der „Offene Brief“ der amerikanischen SWP „An die TrotzkistInnen der ganzen Welt“ vom 16. November 1953, der wesentliche Positionen des Trotzkismus in Erinnerung riefund die Absetzung der Führung des Internationalen Sekretariats forderte. Mit keinem Wort wurde erklärt, warum die SWP jahrelang die Politik der Führung rund um Michel Pablo unterstützt hatte oder wodurch die plötzliche Erkenntnis gewonnen worden war, dass das IS mit dem Trotzkismus gebrochen hätte.
Tatsächlich hatte die SWP-Führung dem Ausschluss der Pablo-kritischen Mehrheit der französischen Sektion zugesehen bzw. diesen sogar unterstützt und war erst dann aktiv geworden, als Pablo in den USA selbst eine Fraktion in der SWP aufbaute (Cochran-Bartell-Clarke-Fraktion). Eine selbstkritische Bilanz der Politik der Vierten Internationale und der SWP in der Nachkriegsphase fehlte im „Offenen Brief“ daher.
Das IK kam über die Forderung nach der „Absetzung“ des IS nicht hinaus – statt konsequenter Schritte für den Aufbau eines internationalen trotzkistischen Zentrums, die eben eine kritische Aufarbeitung der Fehler der Vergangenheit vorausgesetzt hätte, setzten die Gründungssektionen (die SWP, die Schweizer, britische, französische, chilenische, argentinische und kanadische Sektionen) auf eine föderalistische Konzeption. Statt der gemeinsamen Erarbeitung von revolutionären Positionen herrschte eine Mentalität der Nichteinmischung in die Politik der anderen Sektionen des IK vor.
Damit wurde zentristischen, zumeist opportunistischen Abweichungen in den einzelnen Ländern und dem „National-Trotzkismus“ Tür und Tor geöffnet und die historische Chance für die Reform der Vierten Internationale verspielt. Die Anpassung der französischen IK-Sektion um Lambert an die kleinbürgerliche algerische MNA bewegte sich auf der gleichen Ebene wie die Kapitulation der französischen IS-Sektion vor der algerischen kleinbürgerlichen FLN; der „tiefe Entrismus“ der IS-Sektionen findet sein Pendant im tiefen Entrismus der britischen IK-Sektion Gerry Healys in der Labourparty. Es gab zwar unterschiedliche politische Antworten von IK und IS, alle hatten aber ein ähnliches zentristisches Grundverständnis.
These XII
Kontinuität gerissen
Zusammenfassend müssen wir feststellen: Die Vierte Internationale war nach dem Krieg nur eingeschränkt fähig, die Weltlage zu analysieren und die Entwicklung in Osteuropa programmatisch zu beantworten. Dies führte am 3. Weltkongress endgültig zu einer programmatischen Revision und zur Anpassung an die stalinistische Bürokratie, die Sozialdemokratie und kleinbürgerlich-nationalistische Strömungen.
Als Folge dieser Anpassung hat sich der Trotzkismus zersplittert. An dieser Stelle kann nicht mal oberflächlich auf alle Strömungen, die seit dem Zusammenbruch der Vierten Internationalen entstanden sind, eingegangen werden. Doch wir meinen, dass die Streitigkeiten innerhalb des Trotzkismus in erster Linie auf die Frage zurückzuführen sind, an welche nicht-proletarischen Kräfte man sich anpassen sollte bzw. wie weit. Eine weltweit anerkannte Strömung, die konsequent die politische Unabhängigkeit von der Bourgeoisie, der Sozialdemokratie, dem Stalinismus und diversen kleinbürgerlichen Strömungen aufrechterhielt, sehen wir in der heutigen Welt nicht.
Trotz aller richtigen Teilanalysen, die von diversen Strömungen, die sich auf den Trotzkismus berufen, geleistet wurden, gelang es keiner Tendenz innerhalb der trotzkistischen Bewegung, diese programmatischen Aufgaben bis heute zu lösen. Damit ist fürs uns die revolutionäre Kontinuität seit dem 3. Weltkongress der Vierten Internationale gerissen und wurde seither nicht wieder hergestellt. Es existieren sicherlich verschiedene „rote Fäden“ – eben diese richtigen Teilanalysen, die trotzkistische Strömungen erarbeitet haben, auch bei Polemiken unter sich – und von daher können wir auch viel vom internationalen Trotzkismus lernen. Doch keine dieser Strömungen kann von sich behaupten, eine Kontinuität zu Trotzkis Vierter Internationale zu verkörpern.
Die im Übergangsprogramm ausgearbeitet Übergangslogik ist für uns nach wie vor die zentrale Methode für die Erstellung eines neuen, revolutionären Programms. Dieses ist aber nicht eine Ansammlung von „ewigen“ revolutionären Wahrheiten, sondern muss auch eine Einschätzung der vergangenen und zukünftigen Periode und den daraus entspringenden zentralen Aufgaben geben.
Das Übergangsprogramm von 1938 ging von einer revolutionären Periode und der Todeskrise des Kapitalismus aus. Mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs und dem Abflauen der revolutionären Nachkriegsituation kam das Programm immer mehr mit der Wirklichkeit in Widerspruch, die Übergangslosungen waren immer weniger eine Brücke vom aktuellen Bewusstsein der Massen bis hin zur Machteroberung. Diese Methode war aber weiterhin die notwendige Ausrichtung für jede revolutionäre Politik und vor allem für die revolutionäre Propaganda.
Neben der von Trotzki festgestellten Unvollständigkeit fehlten dem Übergangsprogramm notwendigerweise eine Analyse der Entwicklungen in Osteuropa, eine korrekte Einschätzung des Stadiums des Imperialismus und der Weltlage und davon abgeleitet die zentralen Antworten für die neue Periode. Das Übergangsprogramm von 1938, so wichtig uns die Methode seine Übergangsforderungen auch weiterhin ist, war aber als Aktionsprogramm nicht mehr aktuell und hätte etwa um 1948 durch ein neues ersetzt werden müssen.
Jede Strömung, die sich auf den Trotzkismus beruft, muss zu den zentristischen Abweichungen der Vierten Internationale zwischen 1948 und 1951 eine klare Position beziehen. Es genügt nicht, einzelne Positionen der Politik der Internationale zu kritisieren. Vielmehr muss klar ausgesprochen werden, wo die methodischen und programmatischen Fehler der Politik der Vierten Internationale liegen.
Wenn wir die revolutionäre Kontinuität als gerissen ansehen, hat das natürlich auch Implikationen für unsere Vorstellungen vom Aufbau einer neuen Internationale. Heute gibt es viele internationale Strömungen die von Splittern der Vierten Internationale gegründet wurden und die sich selbst als „die“ Vierte Internationale, als „wiederaufgebaute“ oder als „Fünfte Internationale“ bezeichnen. Strömungen, die den Anspruch erheben, eine Kontinuität zu repräsentieren, die jedoch durch den Zentrismus längst zerstört wurde, versuchen in der Regel, einer tiefgehenden Bilanz über die revisionistische Entartung der Vierten Internationale auszuweichen. Sie greifen auf Versatzstücke des Programms der historischen Vierten Internationale zurück, ohne theoretisch und methodisch mit jenen Fehlern zu brechen, die zu deren Scheitern geführt haben.
Für uns ist der Aufbau einer neuen revolutionären Internationalen eine unbedingte Notwendigkeit, um im Klassenkampf eine internationale Führung des Proletariats aufbauen zu können. Heute sehen wir jedoch keine Ansätze einer Bewegung, aus der in der nächsten Zeit eine revolutionäre Internationale entstehen könnte. Deswegen besteht für uns heute auch keine Notwendigkeit, uns auf einen konkreten Namen oder eine konkrete Nummer für die von uns angestrebte neue, revolutionäre Internationale festzulegen. Wir lehnen irgendeine internationale, die sich nicht auf die ArbeiterInnenklasse und den revolutionären Marxismus stützt – sei es gemeinsam mit dem von NGOs gestützten Weltsozialforum oder der bürgerlichen Chávez-Regierung von Venezuela – entschieden ab. Eine neue Internationale muss sich auf die politischen und theoretischen Errungenschaften der ersten vier stützen oder sie wird gar nichts sein.
Schlussfolgerungen
Für uns besteht die Aufgabe der Stunde darin, politische Grundsteine für den Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale zu legen. Dazu genügt es nicht, die zersplitterten Kräfte der „trotzkistischen Familie“ irgendwie zusammenzubringen – denn die meisten trotzkistischen Kräfte stehen leider dem Zentrismus näher als dem revolutionären Marxismus. Eine neue Internationale der bestehenden Kräften des „Anpassungstrotzkismus“ könnte die Führungskrise des Proletariats keineswegs lösen. Die meisten Erben der Vierten Internationale sind programmatisch so weit degeneriert, dass eine Neugruppierung nur auf einer erneuerten, wirklich revolutionären Grundlage möglich ist.
Eine zentrale Aufgabe ist die Entwicklung eines Programms für die jetzige Periode, die Antworten auf die wichtigsten Fragen des internationalen Klassenkampfes anbietet. Das kann aber nur durch den systematischen Aufbau revolutionärer Organisationen, die als organischer Teil der ArbeiterInnenschaft in den konkreten Klassenkampf eingreifen, gelingen – denn ein marxistisches Programm entsteht nicht einfach am Schreibtisch sondern aus der Verbindung wissenschaftlicher Analyse mit den Erfahrungen der fortschrittlichsten Teile der internationalen ArbeiterInnenklasse.
Jedoch lehnen wir die Vorstellung ab, dass die Gewinnung einer Basis in der ArbeiterInnenklasse die revolutionäre Organisation automatisch zum richtigen Programm führen oder sie vor dem politischem Verfall bewahren würde. (D.h. wir lehnen die einseitige Fixierung auf Betriebsinterventionen auf Kosten programmatischer Arbeit, wie es etwa bei der Tradition der französischen Organisation “Lutte Ouvrière” der Fall ist, ab.) Denn selbst die klassenbewusstesten ArbeiterInnen sind ohne die richtige Strategie zur Niederlage verdammt. Revolutionäre MarxistInnen müssen ein Programm entwickeln, es in die Tat umsetzen und es dabei jederzeit der Kritik der gesamten ArbeiterInnenbewegung aussetzen.
Konkret sehen wir unsere Aufgabe darin, den Austausch mit anderen, uns nahe stehenden trotzkistischen Strömungen zu suchen, um ein marxistisches Programm für die kommende Periode auszuarbeiten. Dazu gehört eine ernsthafte aber solidarische Kritik an anderen Positionen. Dabei werden wir uns nicht auf diesen Austausch beschränken, sondern – soweit es uns möglich ist – an den Kämpfen der ArbeiterInnen teilnehmen und dabei revolutionäre Politik entwickeln und eine revolutionäre Organisation aufbauen. Wir kommen nicht auf die absurde Idee, uns als einzige revolutionäre Kraft auf dem Planeten zu proklamieren. Doch wir denken, dass eine wirklich revolutionäre Kraft nur durch programmatische Arbeit – und dazu gehört eben eine Analyse des Scheiterns der Vierten Internationale – und konkrete Interventionen im Klassenkampf aufgebaut werden kann.
Für eine neue revolutionäre ArbeiterInnen-Internationale!
//beschlossen von der ersten Konferenz von RIO DE, Mai 2010
// nach einem Entwurf von Wladek Flakin
//Diese Thesen basieren im Wesentlichen auf den Thesen der GRA von 2005. RIO DE überarbeitete sie ausführlich als Ergebnis einer längeren Diskussion.
//Die GRA-Thesen basieren wiederum größtenteils auf dem Buch “Die Todesagonie der Vierten Internationale” der Gruppe Workers Power von 1984.