Der Sieg der AKP beim Verfassungsreferendum in der Türkei ist kein Schritt zur Volksherrschaft
Die Verabschiedung der Verfassungsreform in der Türkei mit der Zustimmung von fast 60% der abgegeben Stimmen ist eine eindeutige Niederlage derjenigen Fraktion der türkischen KapitalistInnen, die über intensive Verbindungen zum türkischen Militär- und Staatsapparat verfügt, und vor allem für den Apparat selbst. Er muss einige Einschränkungen seiner großen Selbstständigkeit hinnehmen.
Diese Einschränkung der Handlungsfreiheit des Militär- und Staatsapparats ist aber keineswegs eine großartige „Demokratisierung“, wie Ministerpräsident Erdoğan es überall wie eine kaputte Schallplatte immer wieder erzählt. Auch der EU-Imperialismus bemüht die gleiche Darstellung. Der EU-Erweiterungskommissar und der deutsche Außenminister nannten das Ergebnis des Referendums einen bedeutsamen Schritt in Richtung EU-Beitritt. Den europäischen KapitalistInnen geht es aber nicht um bessere Bedingungen für die Bevölkerung der Türkei, sondern um bessere Möglichkeiten für Investitionen auf dem türkischen Markt. Für sie ist die Regierungspartei AKP mit ihrer Liberalisierungspolitik grundsätzlich ohnehin unterstützenswert.
Der Verlust an Selbstständigkeit des Apparats bedeutet zuallererst den Machtzuwachs von Erdoğans AKP, die durch ihre Parlamentsmehrheit die entscheidenden Positionen innehat. Die Stärke der AKP basiert zum großen Teil darauf, dass sie die Unterstützung der stärksten Gruppe des türkischen Kapitals genießt. Diese „AKP-Fraktion“ der türkischen KapitalistInnen sieht in dem ziemlich unkontrollierten Apparat (der in dieser Art für sie durchaus historisch seinen Nutzen gehabt hat) inzwischen einen unangenehmen und ineffizienten Faktor. Erdoğans Ansage, ein Präsidialsystem wäre gut für die Türkei, zeigt, dass es bei dem Prozess, zu dem die Verfassungsreform gehört, keineswegs um ein Projekt der Demokratisierung, sondern um ein Projekt der Machtverlagerung geht. Die Möglichkeit der Bestrafung von PutschistInnen und die Verbesserungen, die nun in der Verfassung stehen, sind mit dem Referendum noch lange nicht Wirklichkeit. Auch in den 60er Jahren garantierte die Verfassung der Türkei beispielsweise das Streikrecht – in der Realität aber existierte es überhaupt nicht und erst die ArbeiterInnenbewegung setzte ihr Recht zu streiken selbst durch.
Ein großer Teil der türkischen Bourgeoisie und ihre Agentur, die wirtschaftsliberale AKP, werden sich nun gestärkt fühlen und ihre Politik der Angriffe auf die Rechte, Löhne und Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung unverzüglich fortsetzen. Dagegen muss der Abwehrkampf organisiert werden, der auch auf schon lange bestehenden Missstände ausgeweitet werden muss. Die KollegInnen von TEKEL haben sich als strahlendes Beispiel den Anschlag der Herrschenden nicht bieten lassen und den Kampf aufgenommen. Auch KollegInnen in anderen Betrieben leisten Widerstand gegen Verschlechterungen. Wenn diese Kämpfe alleine bleiben, ist es viel leichter für die Bosse, ihren Willen rigoros durchzusetzen. Deshalb ist es notwendig, dass wir gemeinsam kämpfen.
Dabei können auch die rhetorischen Zusagen der MachthaberInnen genutzt werden. Die gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (mit Ausnahme z.B. der Polizei) muss jetzt erst recht vorangetrieben werden. Denn das ist eine Sache, die nun offiziell erlaubt ist. Das noch bestehende Streik-Verbot zu überwinden ist eine der Aufgaben, die sich in der Folge stellen. Die Bildung von Komitees zur Beweisaufnahme und Strafverfolgung der PutschverbrecherInnen steht nun auf der Tagesordnung. Diese wichtige Aufgabe, die Erdoğan angeblich mit der Verfassungsreform angehen wollte, kann unmöglich denjenigen Gerichten überlassen werden, die Kreationen der PutschistInnen sind und die heute noch zahlreiche Verbindungen zu den VerbrecherInnen haben. Deswegen müssen diese Komitees aus ArbeiterInnen und der einfachen Landbevölkerung verschiedener Volksgruppen und Kulturen bestehen, damit eine unabhängige Strafverfolgung überhaupt möglich ist.
Die AKP wird nach der Verfassungsreform weiter daran arbeiten, den Repressionsapparat unter die Kontrolle der Regierung (und nicht unter die des Volkes!) zu bringen. Die Versprechungen, die sie abgegeben hat, sind nur ein Mittel, um sich gegen die kemalistische Fraktion im internen Konkurrenzkampf durchsetzen zu können. Alle Fraktionen des Kapitals machen Politik gegen die ArbeiterInnenklasse. Nun muss eine Massenbewegung aufgebaut werden, um die Regierung zur Umsetzung der Handvoll Versprechen zu zwingen und um ihre Pläne zur Vermehrung des Reichtums der KapitalistInnen auf Kosten der ArbeiterInnen zu durchkreuzen! Der große Erfolg der Boykottkampagne in den kurdischen Gebieten, wo die große Mehrheit der Menschen trotz der drohenden Bestrafung die Abstimmung verweigert haben, zeigt, dass durchaus ein Potential vorhanden ist, die Türkei zu Demokratisieren – das heißt: dass die Bevölkerung den Mächtigen in Staat und in den Chefetagen der Unternehmen die Macht entreißt und ihre Zukunft selbst bestimmt.
Stellungnahme der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO), 5. Oktober 2010, nach einem Entwurf von Victor Jalava